Das schöne als Workshopleiterin ist, dass man bei spannenden Fragen wie „Was ist das Wichtigste bei einer guten Figurcharakterisierung“ manchmal nur die Teilnehmer*innen fragen muss, um eine Auswahl zu erhalten, die einen ganz praxisorientierten und schreibtauglichen Blick auf diesen spannenden Aspekt des Schreibhandwerks zeigt.
1.) Besonderheiten im Äußeren der Figur
Viele Schreibanfänger drücken sich vor diesem Punkt. Ich behaupte, dahinter steckt Faulheit, auch wenn manche die dadurch entstehende Vagheit im Text vielleicht für literarisch halten. Es gibt wirklich gute Literaten, die aus guten Gründen genau mit dieser Vagheit spielen – aber überlegt euch bitte ehrlich und realistisch, ob ihr schon in deren Liga spielt und ob ihr das überhaupt wollt.
Man sollte in jedem Fall wissen, welche Haar- und Augenfarbe alle wichtigen Figuren haben, behaupte ich. Zumindest sollte es irgendwo stehen, wo man es nachschlagen kann. Also achtet auf:
- Haar- und Augenfarbe
- Figur, Größe, Trainingszustand oder -mangel
- Besondere Details wie Narben, Brille, Muttermale, Tätowierungen, Sommersprossen …
- Die Art, wie sich jemand bewegt (unsicher, träge, selbstbewusst, dynamisch, …)
- Frisur
- Kleidungsstil, Lieblingsstücke, Schmuck
2.) Ambivalenz aus „positiven“ und „negativen“ Charakterzügen
Vermutlich hat jeder, der sich ein wenig mit dem Schreibhandwerk schon mal gehört, dass man Helden nicht nur gut und Schurken nicht nur böse gestalten soll. Hitler liebte (angeblich) seinen Hund und war aus Tierliebe Vegetarier, und Mutter Theresa lehnte (angeblich) trotz all ihrer Aufopferungsbereitschaft Hilfebedürftige ab, wenn sie nicht zum christlichen Glauben konvertierten.
Solche Ambivalenzen machen es schwerer, Menschen in eindeutige Schubladen einzusortieren, und erschweren damit scheinbar die Orientierung in Geschichten. In Wahrheit spiegeln sie jedoch eine fundamentale Grundbedingung des Menschseins. Alles hat mindestens zwei Seiten. Geschichten, in denen man das spürt, berühren tiefer. Also traut euch! Spürt im Alltag nach diesen Ambivalenzen, sucht die Schatten in Personen, die ihr bewundert und liebt und das kleine Licht im Innern von jemandem, den ihr verachten würdet, wenn ihr für solche Emotionen nicht zu zivilisiert wärt …
Könnt ihr euren Figuren einen Hauch der Ambivalenz und Vielschichtigkeit mitgeben, die jeder einzelne reale Mensch in sich verborgen trägt?
(Für alle, die gern systematisch an die Psychologie und Charakterzustände von Figuren rangehen, empfehle ich die psychologische Aufteilung der „Big Five“, die dem aktuellsten Forschungsstand der Psychologie zu Persönlichkeitstypen entsprechen. Evt. schreibe ich dazu und die Methodik beim Schreiben bald einen eigenen Artikel. Bis dahin verweise ich auf Wikipedia.)
3.) Alltägliche Situationen und Ausnahmezustände
Es ist wichtig, dass ihr euch eure Figuren nicht nur in dramatischen Kampfmomenten und Actionszenen vorstellen könnt, sondern auch in ruhigen und eher alltäglichen Momenten.
Meine erste und wichtigste Lehrerin Gyde Callesen (deren Kurse ich nach wie vor jedem wärmstens ans Herz lege) ließ mich einmal eine Szene schreiben, in der eine Figur Kartoffeln schält. Es ist sehr wichtig, solche Momente literarisch einfangen zu können, gerade weil Leser*innen in einem längeren Prosatext nicht ausschließlich atemlos von einer dramatischen Szene zur nächsten gehetzt werden dürfen.
Außerdem ist es spannend, was für Abgründe sich beim Kartoffeln schälen auftun können … probiert es ruhig einmal aus!
Gleichzeitig ist es spannend und wichtig, zu erfahren, wie sich Figuren verhalten und verändern, wenn Druck auf sie ausgeübt wird. Eine Kursteilnehmerin von mir zeigte vergangenes Wochenende eine scheinbar ruhige Szene, in der eine völlig erschöpfte Frau sofort wieder ihr berufliches Lächeln zeigte und Verantwortung für ihre genauso erschöpfte Freundin übernahm.
Gute Autor*innen erhöhen den Druck in ihrer Geschichte wellenförmig immer stärker, sodass die Figur unter immer größerer Anspannung handeln muss und so Persönlichkeitszüge entfaltet und zeigt, die zuvor tief in ihrem Innern verborgen und ihr vielleicht nicht mal selbst bekannt waren.
4.) Liebe als Charakterisierungsinstrument
Ich sagte schon, dass man als Workshopleiterin manchmal von den Teilnehmenden lernt, oder? Denn ich wäre früher nie auf die Idee gekommen, eine Szene damit beginnen zu lassen, was eine Figur liebt. Franziska jedoch schon, und die Idee ist grandios. Wenn ihr euch Gedanken macht, was eure Figur liebt, nicht nur als kurze Aufzählung von Stichpunkten, sondern als poetischen Skizzentext voller Ambivalenz und Tiefe, erlaubt ihr euch damit einen ganz eigenen Blick auf die noch zu erschaffende Figur.
Probiert es ruhig aus – und schreibt gern als Kommentar, wie es sich bei euch entwickelt hat!
5.) Einstellung zu sich selbst
Ein spannender Punkt bei der Figurentwicklung ist immer auch die Frage danach, was für eine Einstellung die Figur zu sich selbst hat. Hier kann es gravierende Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung geben (z. B. ein achtjähriges Mädchen, das glaubt, alle würden sie wegen ihres „komischen“ Ponys hässlich finden, während die Umwelt den Pony neutral sieht und einige ihn sogar richtig hübsch finden). Es lohnt sich also, auch bei der scheinbar unwesentlichen Frage nach der Einstellung zu sich selbst genauer hinzusehen und nach spannenden Konfliktfeldern zu suchen:
- Vertraut die Figur auf ihre Fähigkeiten oder ist sie ständig am Zweifeln?
- Akzeptiert sie sich selbst so, wie sie ist, grundlegend, oder wäre sie gern jemand anders?
- Was mag sie an sich, was verabscheut sie?
- Welche Unterschiede gibt es zwischen Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung?
- Was würden andere als besondere Stärke sehen, worauf die Figur niemals selbst kommen würde?
6.) Soziales Netz
„Eine junge Frau in der Großstadt, die von der großen Liebe träumt“ oder „Ein Mann in mittleren Jahren, der beruflich irgendwie stecken geblieben ist“ – das sind etablierte Figurenstandards, eine davon für Liebesgeschichten, eine für Thriller. Und sie wären nicht Standards geworden, wenn sie nicht oft funktionieren würden, auch wenn es immer erlaubt ist, so was aufzubrechen und zu verändern.
Was solche Figuren trotz ihres ersten Gefühls von Wiedererkennung einzigartig macht und dafür sorgt, dass sie in Erinnerung bleiben, sind oft vor allem die Menschen um sie herum. Wir alle werden durch unser soziales Netz geformt, ob wir uns das eingestehen oder nicht. Ob es die Stimme der Mutter ist, die uns aus der Erinnerung heraus mahnt, vorsichtig zu sein, oder der bewundernde Blick eines guten Freundes, den wir innerlich zu spüren glauben, wenn wir uns der nächsten Herausforderung stellen … Die Menschen in unserem Leben formen uns auch dann, wenn sie nicht präsent sind.
Also arbeitet das soziale Netz auch dann heraus, wenn ihr die Figur in Szenen zeigt, in denen sie allein ist, zumindest in Ansätzen. Auf diese Weise schafft ihr mehr Figurentiefe und Glaubhaftigkeit.
Besonders spannend wird es natürlich immer erst dann, wenn ihr auch die anderen Menschen zeigt und eure Leser*innen so ahnen und erschließen können, warum eure Figur durch gerade diese Menschen zu der Persönlichkeit geformt wurde, die sie am Anfang zeigt und während der Handlung weiter enthüllt. Also gebt auch den Nebenfiguren ein bisschen oder sehr viel Figurhintergrund – es lohnt sich!
7.) Träume und Hoffnungen
Deine Figur hat Träume und Hoffnungen. Natürlich. Davon gehe ich aus, denn sonst gäbe es keine Geschichte, die es wert wäre, erzählt zu werden. Wenn alles gut ist, wie es ist, woher soll dann der Antrieb zur Veränderung kommen, der eine Story vorantreibt?
Spannend wird es, wenn die Träume nicht das sind, was die Figur tatsächlich will oder braucht. Beispiel: Eine Frau träumt von einem idyllischen Leben mit Familie und Ehemann, während sie gleichzeitig jede Bemühung von interessanten Männern vereitelt, sie näher kennenzulernen. Im Lauf der Story findet sie heraus, dass sie eigentlich erst mal reisen und die Welt kennenlernen will und ihr ursprünglicher Traum gar nicht ihr eigener war, sondern das, was ihre geliebte große Schwester ihr immer gewünscht hat.
Macht auf keinen Fall den Fehler, dass die Figur am Anfang der Story von genau dem träumt, was sie am Ende findet. Das macht eure Geschichte mega langweilig und vorhersehbar. Natürlich kann ein Teil der Träume in Erfüllung gehen – aber wenn es wirklich genauso wird wie erwartet, habt ihr es euch als Schreibende zu leicht gemacht, und das spürt man später beim Lesen.
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Ich wünsche euch allen viel Spaß und Erfolg beim Schreiben – und freue mich immer über Kommentare, ob die Tipps geholfen habt und was für weitere Schreibtipps zum Thema Charakterisierung ihr anderen mitgeben könnt!
Best wishes
Hanna
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Bildnachweise
Titelbild: https://pixabay.com/de/composing-frau-fantasie-gesicht-2391033/
Bilder im Beitrag: https://pixabay.com/de/frau-farben-gesicht-portrait-2902588/, https://pixabay.com/de/mann-frau-composing-streit-2933991/, https://pixabay.com/de/kartoffel-schälen-hände-kartoffel-282427/, https://pixabay.com/de/skateboard-skateboarder-skate-2271289/, https://pixabay.com/de/nachdenken-träumen-nachdenklich-2415474/, https://pixabay.com/de/personen-frau-selbstgespräch-2923048/, https://pixabay.com/de/fantasy-augen-wald-äste-gesicht-2824304/
Die Verfasserin:
Hanna Aden (*1983) ist Schriftstellerin und examinierte Lehrerin. Seit 2015 unterstützt sie als Seminarleiterin und Coach angehende und professionelle Autor:innen auf ihrem Weg.
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Danke, dass Du meinen Text gelesen hast! Ich mag neugierige und wissbegierige Menschen. Besonders, wenn sie sich für das Erzählen von Geschichten interessieren.
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Liebe Grüße
Hanna