Ein Roman als Schreibratgeber – kann das funktionieren?

„Sadik, der Geschichtenerzähler, braucht 1001 Lüge, um der Wahrheit näherzukommen.“ – Klappentext

Die meisten Schreibratgeber kommen als Fachbücher daher, die Dir Facetten des Schreibhandwerks vermitteln. Entweder bekommst Du einen allgemeinen Ratgeber über die handwerklichen Grundlagen, oder ein Fachbuch, das besonders auf Aspekte wie Figurentwicklung, Archetypen, bestimmte Plotmethoden, Dialoge oder auch den Weg als Künstler:in eingeht.

In jedem Fall ist Dir schon vor dem ersten Aufschlagen klar: In diesem Buch lernst Du etwas über das Schreiben von Romanen.

„Der ehrliche Lügner“ geht anders vor. Meiner Ansicht nach hat Rafik Schami das Buch nie als Schreibratgeber geplant. Aber immer, wenn ich bei einem Projekt nicht weiterkomme, lese ich das Buch und stelle mir vor, bei Sadik in die Schule zu gehen.

Denn am Anfang aller Bücher war ein Mensch, der kraft seiner Stimme die Macht besaß, Menschen mit seinen Worten zu verzaubern und sie Hunger, Durst und Müdigkeit vergessen zu lassen.

Wovon handelt der Schreibratgeber?

„Der ehrliche Lügner“ erschien bereits 1992. Vier Jahre später stolperte ich als schüchterne 13-Jährige in der Buchhandlung darüber. Fasziniert von dem Titel kaufte ich es mir von dem Geld, das eigentlich für neue Sandalen gedacht war, auch wenn ich das Wort „Bürgerkrieg“ auf der Rückseite des Buches nicht verstand. Ich ahnte dunkel, dass ich hier ein Buch der Hochliteratur in den Händen hielt, die ich sonst wegen ihrer Abstraktheit und schweren Themen liegen ließ. Aber das Cover war so bunt und freundlich, dass ich nicht widerstehen konnte.

Tatsächlich erscheint mir das Buch auch als erwachsener Literatur-Leserin immer noch fesselnd und mehrdimensional. Es schildert das Leben in der fiktiven Stadt Morgana, die vom Bürgerkrieg eingekesselt ist und deren Bewohner:innen sich irgendwie damit arrangiert haben. Doch als jugendliche besaß das schwere Thema nichts Bedrückendes, denn mit federleichtem Blick wurde das Leben eines Jungen in meinem Alter beschrieben, der sich verliebte und inmitten von Nachbarschaft, Verwandschaft und alten Straßen zur Schule ging.

Der einzige Unterschied zwischen ihm und mir schien zu sein, dass der Junge ein Geschichtenerzähler war. Er erzählt seinem Bruder abends im Bett, damit dieser einschlafen kann, und durchläuft damit eine harte Schule. Als ein Zirkus in der Stadt Morgana strandet und wegen des Bürgerkriegs nicht weiterziehen kann, wird Sadik mit seinem Talent zur letzten Rettung. Denn die Menschen gehen einmal, vielleicht zwei- oder dreimal in den Zirkus, und danach bleiben die Eintrittsgelder aus. Immerhin hat man all die mühsam einstudierten Nummern bereits gesehen.

Sadik dagegen erzählt jeden Abend eine neue Geschichte. Und jede Geschichte speist sich aus den Überlegungen und Erlebnissen, die er im Lauf des Tages hatte. Jede Geschichte ist (angeblich) einem Menschen zugestoßen, den er tatsächlich kannte. Es sind spannende und skurrile Anekdoten, die zusammen mit den alltäglichen Erlebnissen ein Bild einer Welt zeichnen, die sich von meiner unterscheidet. Immer wieder erlebt Sadik, dass er mit einer Geschichte besonderen Erfolg hat – oder im Gegenteil auf ein äußerst unwilliges Publikum trifft. Man fiebert mit ihm … und lernt aus seinen Gedanken mehr darüber, wie man Geschichten aufbaut, wann sie funktionieren und wann nicht.

Kurz vor Ende des Buches verrät Sadik, der künftige Meister des Geschichtenerzählens, wie er es anstellt, sich all seine Geschichten zu merken. Ich spoilere die Methode nicht … aber meiner Ansicht nach ist es eine der schönsten Methoden überhaupt, um das Exposé für einen Roman zu entwickeln.

Wie hilft der Schreibratgeber Dir, Deine Stimme als Künstler:in zu finden?

Bücher zu schreiben ist ein einsames Handwerk. Wer jeden Tag im Brotberuf unzähligen Menschen begegnet, mag diese Einsamkeit zu schätzen wissen, nichtsdestotrotz findet die Auseinandersetzung mit den eigenen Ideen, Plotkonflikten und die Suche nach der richtigen Formulierung im stillen Kämmerlein statt. Man kann sie zehntausendmal ändern, ohne dass irgendjemand es mitbekommt.

Obwohl ich bei meinen eigenen Büchern ganz ähnlich vorgehe, habe ich in den vergangenen Jahren zunehmend das Gefühl bekommen, dass dieser Methode etwas fehlt. Erst, wenn ein Projekt so weit ist, dass man es Agenturen oder Verlagen vorlegen kann, bekommt man ein Feedback dafür. Im Interesse der Verkaufbarkeit künftiger Bücher bezieht sich dieses Feedback nie auf den literarischen Gehalt eines Manuskripts, sein Potenzial oder seine leise Schönheit, sondern primär auf seine Verkaufbarkeit.

Verkaufbarkeit bedeutet nichts anderes, als: Dieses Manuskript hat das Zeug dazu, das aufzufangen und zu verstrahlen, was im aktuellen Zeitgeist möglichst viele Menschen anspricht.

Mir sind viele Autor:innen begegnet, die diese Anonymität als sehr verletzend erleben. Warum soll man sich verbiegen, verdrehen und verformen, um es einer anonymen Menschenmasse recht zu machen, die seltsame Dinge über den Aufbau von Storys und thematische Schwerpunkte zu fordern scheint?

„Der ehrliche Lügner“ lehrt uns auf wunderschöne Weise, wie es stattdessen funktionieren kann. Wenn Sadik im Zirkuszelt die Manege betritt, schlägt ihm die gleiche Art atemloser Spannung entgegen, die die Hochseilartisten erhalten. Er steht in der Mitte eines runden Platzes und hat keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Wenn er stottert, den Faden verliert oder langweilige Einzelheiten aufzählt, werden die Menschen auf den Bänken um die Manege zu schwatzen beginnen.

Doch wenn er es schafft, die Geschichte richtig zu erzählen, zielgruppenoptimiert, wie dieses böse Wort lautet, dann schlägt ihm als Dank atemlose Aufmerksamkeit entgegen und die Menschen atmen in dem Rhythmus, den seine Stimme ihnen vorgibt …

Deswegen lade ich Dich ein, „Der ehrliche Lügner“ zu lesen, um einen neuen Blick darauf zu gewinnen, welche Macht Deine Erzählstimme besitzt. Die Menschen auf der anderen Seite der Manegenbande, auf der anderen Seite der Kasse im Buchladen, sind Menschen wie Du und ich. Kannst Du spüren, was sie hören wollen, wie Du sie dazu bringen kannst, in dem Rhythmus zu atmen, in dem Du erzählst?

Willst Du es?

Was das Buch für mich bedeutet

Ich schrieb bereits: „Der ehrliche Lügner“ war ein Kindheitsbuch, das mich beim Heranwachsen begleitete. Eines der Bücher, die man immer dann zur Hand nimmt, wenn man Halt und Wärme, Liebe und Abtenteuer, geistige Klarheit und einen Anflug von Weisheit braucht. Und wie viele wahrhaft guten Bücher ist es für Dreizehnjährige genauso erfrischend zu lesen wie für Menschen im Rentenalter, die intensiv gelebt haben und auf viele Jahrzehnte voller Leben zurückblicken.

Dieses Buch hat einen Helden, der einer sehr ungewöhnlichen Profession nachgeht: Er ist Geschichtenerzähler. Und wenn man sich anschaut, dass der Verfasser des Buches im Exil als Schriftsteller meisterhafte Bücher verfasste, erahnt man, dass der jugendliche Geschichtenerzähler des Romans ein alter Ego des erwachsenen Autors ist.

Dieses Buch verströmt eine erzählerische Kraft, die ich bis heute nur in wenigen Büchern gefunden habe. Es lehrte mich, dass Geschichtenerzählerin die ehrenvollste Berufung ist, der ein Mensch nachgehen kann, denn wir haben die Macht, mit unseren Worten die Welt zu formen und Menschen im Gewand von Märchen und Geschichten ganz spielerisch ihr Menschsein spüren zu lassen.

Meine Storyteller Nights wurden mindestens so stark durch den ehrlichen Lügner inspiriert wie durch das Dekameron von Boccaccio. Monat für Monat lerne ich dort mehr darüber, wie ich selbst erzählen will, und erkenne immer wieder neu: Die Menschen spüren, ob eine Geschichte wahr oder konstruiert ist. Je verletzlicher und persönlicher sie daherkommt, desto mehr Wahrheit und Bedeutung sprechen wir ihr zu.

Wer also lernen will, wahr, verletzlich und gut zu schreiben, dem sei dieses Buch ans Herz gelegt. Und vielleicht kommst Du auch als Gast zur nächsten Storyteller Night und erzählst eine von 1001 ehrlichen Lügen, die das Leben Dich gelehrt hat?

Titel des Buches: Der ehrliche Lügner
Autor: Rafik Schami
Verlag: Beltz und Gelberg – Gulliver zwei
Erscheinungsjahr: 1992

Was bedeutet „Schreibratgeber des Monats“?

Es gibt unzählige Schreibratgeber auf dem Buchmarkt, sowohl aus dem deutschsprachigen wie auch aus dem anglo-amerikanischen Raum. Vielleicht kennst Du schon mein Workbook „Finde den Weg zu Deiner Story„? Das mag ich besonders gern.

Ich bin Hanna Aden, Schriftstellerin, studierte Lehrerin und Schreib-Coachin. Meine Leidenschaft gilt dem Unterrichten des Schreibhandwerks. Deswegen biete ich Kurse, Coachings und Seminare an.

Immer wieder begegnen mir dabei Menschen, die mit einem konkreten Problem kämpfen, zu dem ein anderer Mensch bereits ein Buch geschrieben hat. Natürlich nutze ich die Zeit im individuellen Gespräch immer, um bestmöglich auf die Frage einzugehen, mit der mein Gesprächspartner oder -partnerin in diesem Augenblick ringt . Trotzdem finde ich im direkten Gespräch die individuellen Blickwinkel wichtiger als das Nacherzählen von Texten im Schreibratgeber.

Aus diesem Grund empfehle ich oft ein Buch, das passgenau für diese Situation hilft.

Es gibt einige Ratgeber-Bücher, die ich an diesen Stellen immer wieder empfehle. Das in diesem Artikel vorgestellte ist eines davon. Es hat mir geholfen, genauso wie vielen anderen Menschen auf meinem Weg. Deswegen halte ich es für vertrauenswürdig und lege es Dir ans Herz.

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Bis nächste Woche!

Romane schreiben für Anfänger



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