Heute muss Julia während der Arbeit die ganze Zeit an ihr Lieblingsbuch denken. Sie wiederholt einzelne Sätze, mit denen die Autorin leise und unaufdringlich Schönheit erschuf, die beim Lesen unter die Haut ging. Worte, die nachhallen und zeigen, was möglich ist, wenn …
Was müsste passieren, damit sie ebenfalls so schreiben kann?
Vermutlich ist es unmöglich. Das, was den Zauber dieser Lieblingsgeschichte ausmacht, speist sich aus einer Quelle tief im Innern der bewunderten Autorin. Dieser mitunter aufblitzende leise Spott, diese Zartheit und Genauigkeit im Beobachten von Menschen, Konflikten und der Art, wie Leute miteinander umgehen … Dieses stolze Selbstbewusstsein, mit dem Metaphern und Sprachbilder genau dann eingesetzt werden, wenn sie die größtmögliche Wirkung erzielen, während die Sprache an anderen Stellen angenehm zurückhaltend bleibt und den Figuren Raum lässt, ihre Geschichte zu erleben …
Selbst, wenn es Julia gelänge, ähnlich nuanciert, leise und kraftvoll zu schreiben, würden sich ihre Texte ganz anders lesen. Sie ist schließlich ein anderer Mensch als das Vorbild.
Wie verlockend es wäre, stattdessen Motive und Plotfäden aus dem bewunderten Werk zu ’stibitzen’und auf diese Weise etwas von der fremden Größe zur eigenen zu machen!
Doch Julia ahnt, dass es auf diese Weise nicht funktionieren kann. Das, was das Lieblingsbuch zu einem Lieblingsbuch macht, ist dieser einzigartige Blick auf die Welt, der sich darin spiegelt.
Zu Hause steht sie vor dem magischen Adventskalender und zögert.
„Je tiefer und wahrer Deine Geschichte wird, desto verletzlicher wirst Du. Vertraue.“
Julia schluckt. Eswäre schön gewesen, eine Antwort zu bekommen, die Ruhe und Entspannung bedeutet. Das, was aus ihr selbst kommt, ist niemals gut genug. Sie hat ihr ganzes Leben lang gelernt, sich anzupassen und der Welt das Gesicht zu zeigen, das man von ihr erwartet.
Wen interessiert denn überhaupt die tiefe Wahrheit, die sich in ihr verbirgt? Die ist garantiert nicht so spannend und aufregend wie das, was die Autorin des Lieblingsbuches geschrieben hat.
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Freiwilliger Schreibauftrag für Julia (und Dich):
Stelle einen Timer auf fünf Minuten. Wahrheit – so ein seltsames Wort. Geschichten sind doch ausgedacht. Oder nicht?
Überschrift: „Die tiefe Wahrheit in meiner Geschichte ist, dass …“
Vor welcher Wahrheit hast Du Angst, obwohl Du sie für Deine Geschichte brauchst?
Die Verfasserin:
Hanna Aden (*1983) ist Schriftstellerin und examinierte Lehrerin. Seit 2015 unterstützt sie als Seminarleiterin und Coach angehende und professionelle Autor:innen auf ihrem Weg.
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Danke, dass Du meinen Text gelesen hast! Ich mag neugierige und wissbegierige Menschen. Besonders, wenn sie sich für das Erzählen von Geschichten interessieren.
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Mein Best Buddy würde sagen: Gönn Dir!
Ich freue mich darauf, Dich vielleicht schon bald in einem meiner Kurse kennenzulernen.
Liebe Grüße
Hanna
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Photo by Zoltan
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